Wenn man mit vierzig Jahren zum Beispiel darauf hingewiesen wird welch qualvolles Dasein Hühner in Legebatterien fristen und man vielleicht doch ein paar Cent mehr in Freilandeier investieren sollte, sieht man das nur schwer ein. Man backt schließlich viel, und Eier sind teuer, man muss ja auch gucken wofür man sein Geld ausgibt.
Noch schwerer ist es aber zum Beispiel, mit vierzig Jahren plötzlich ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie viele Viren und Bakterien an der eigenen Handfläche hängen, wenn man sich nach dem Kacken den Hintern abgeputzt hat. Wenn man denn genug Bewusstsein dafür hat, das die Wurst, die man gerade in die Schüssel gedrückt hat, Rückstände in der Ritze verursacht.
Doch werden wir konkret – ihr ahnt es sicher schon, ich will auf unsere Mitbewohner im Wohnheim hinaus. Wir ihr euch vielleicht erinnert, sollte uns bereits die erste Begegnung mit dieser Familie im Gedächtnis gut haften bleiben: die Mutter geht ins Zimmer, holt das Unterteil des Küchenmülleimers und schüttet eine übelriechende Flüssigkeit in die Küchenspüle. Sie wäscht den Mülleimer aus, steckt eine frische Mülltüte hinein, setzt den Deckel obenauf und stellt ihn an seinen Platz in der Küche. Kurze Verwunderung.
Wie bereits früher beschrieben, handelte es sich hierbei um Pisse.
Vier Tage später, am 28. August 2009, notierte ich in meinem Tagebuch: „Unsere Mitbewohner-Familie im obshezhite (sie wohnen zu viert in einem Zimmer) legt großen Wert auf „naturalnye Produkty“. Sie sind sehr gastfreundlich, und obwohl sie anscheinend sehr wenig Geld haben, laden sie uns immer zum Teetrinken an den großen Tisch [Anm.: im Gemeinschaftsraum] ein. Dort dürfen wir dann alles „poprobyvat“ [probieren] und erhalten nach allem Selbstgebackenem die Bestätigung: nur aus der Natur. Wenn man Pech hat, machen sie dazu noch eine rollende oder knetende Geste – Pech deshalb, weil man absolut nicht wissen will, welche „Naturprodukte“ da noch so dran hängen. Das ist weder Anfeindung noch Vorurteil – diese Familie wäscht sich so selten, das ist einfach unglaublich.“ (…) Weiter unten: „Aber dass sie sich nicht die Hände waschen, wenn sie auf dem Klo waren, noch nicht mal die Mutter, bringt mich schon fast zum Übergeben wenn ich daran denke wie viel selbstgekochtes Essen ich in Zukunft nicht ablehnen darf – so groß ist meine Liebe für „Naturprodukte“ dann auch wieder nicht. (…)“
Weiter: „Bad und Klo sehen auch aus wie Sau… Die Mutter hat das Bodenwischwasser dieses Mal nicht (positive Entwicklung) ins Küchenwaschbecken, sondern ins Klo geschüttet. Leider hat sie es aber nicht gepackt, die Klobrille hochzuklappen und sie deshalb völlig versaut. Ob ihr das egal ist? Immerhin hat sie zwei kleine Töchter. Wobei die ja in der Hocke (auf der Brille stehend) pinkeln, wie uns Ajsha heute demonstriert hat. Damit besprenkeln sie dann noch den restlichen sauberen Klobrillenteil. Wenn die Kinder nicht ins Klo pieseln, machen sie in einen Eimer im Zimmer.“ (…)
Unser Klo nachdem wir es zum ersten Mal grundgereinigt hatten. Nein, wir haben auch keine Ahnung wofür diese Teekanne ist. Manchmal ist Wasser drin, manchmal eine rote Flüssigkeit. Mit dem Lappen links wischt die Mambet-Mutter ab und zu die Pisse von der Brille. Richtig sauber machen nur die Deutschen, alle zwei Wochen.
Am Anfang dachten wir, dass es sich dabei um eine Notlösung handelt – die Kinder im Alter von vier und sieben Jahren brauchen einen Toilettenersatz solange sie den ganzen Tag alleine, eingesperrt in ihrem Zimmer, verbringen. Ja, richtig gelesen, alleine! In der letzten Augustwoche beschloss die Mutter nämlich, ins Aul (kasachisch für Dorf) zu ihren Eltern zu fahren. Ihr Mann arbeitet als Programmierer (behauptet er zumindest) an der Uni und ist deshalb von Montag bis Samstag von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags nicht zu Hause. Jeder normale Mensch würde wahrscheinlich denken: „Hey, meine kleinen Kinder haben Sommerferien, die nehm ich doch glatt mit wenn ich meine Eltern ein paar Tage besuche, sonst sind sie ja den ganzen Tag alleine.“
Könnte man eventuell als kulturelle Andersartigkeit betrachten (naja, eigentlich nicht), und deshalb fragten wir Nelli, ob man das hier manchmal so machen würde, Kinder alleine zu Hause lassen. Sie runzelte die Stirn rief entsetzt: „Nein, das macht man eigentlich nicht, ich meine, die sind ja noch ganz klein!“ Das hat uns insofern beruhigt, als dass wir sicher sein konnten, dass nicht ein ganzes Volk sich so dämlich verhält.
Im Übrigen legen die städtischen Kasachen bzw. Kasachstaner inklusive aller anderen Ethnien wie Russen, Tataren, und so weiter sogar mehr Wert auf’s Händewaschen als die Deutschen. Sie waschen sich – soweit möglich – vor jedem Essen die Hände. Mama, du würdest vor Freude über diese gute Angewohnheit weinen!
Sie haben auch kein Problem damit, ihre Gäste freundlich dazu aufzufordern. Allerdings scheint ein großer Unterschied zwischen Stadtbewohnern und Dorfbewohnern und Bewohnern sehr weit abgelegener Dörfer zu bestehen. Für letztere verwenden die Stadtbewohner die abwertende Bezeichnung „Mambet“ – wir haben schon von mehreren Leuten im Flüsterton gehört: „Wisst ihr, das sind solche Bauern, die kommen aus den Dörfern in die Stadt und haben überhaupt keine Kultur, also sie wissen nicht wie man sich richtig verhalten muss. Es gibt solche Leute, die haben keine Ahnung von Hygiene.“
„Unsere“ Familie fällt mehr oder weniger in die dritte Kategorie.
Waschbecken: links unsere Flüssigluxusseife, rechts das kaum beachtete Seifenstück der Mambet-Family
Warum also pinkeln die Kinder in den Eimer, beziehungsweise in eine blaue Plastikschüssel? Mittlerweile habe ich es verstanden – die Toilette ist einfach zu schmutzig! Wer benutzt die Toilette? Die Familie, Inga, ich. Und die Gäste der Familie. Seltener unsere Gäste. Wer verschmutzt die sanitären Anlagen nicht? Genau – Inga und ich! Was lässt sich daraus schließen – Mama und Papa plus ihre Gäste verpissen das Klo so, dass die Kinder besser im Zimmer auf die „Schüssel“ gehen.
Eine andere Erklärung wäre: einfach aus Faulheit. Die Eltern sind zu faul, den Kindern das Klolicht anzumachen, die Eltern sind zu faul, der Jüngsten zu helfen, sie sind zu faul, darauf zu achten ob die Kinder sich auf ein verschmutztes Klo setzen oder stellen.
Im Sommer pinkelt die Jüngste auch mal auf den Balkon oder die Ältere ins Treppenhaus. Folgendes Bild: Man sitzt am Schreibtisch, die Sonne scheint herein, es ist warm, die Balkontür steht offen – plötzlich vernimmt man ein Pissgeräusch. Und es kommt nicht aus Badrichtung, es kommt von draußen, es klingt ziemlich nah. Man steht auf, tritt einen Schritt auf den Balkon und sieht gerade noch, wie die kleine Ajlita zurück in ihr Zimmer huscht. Mitten auf dem Balkon eine kleine Pfütze, deren Wasser langsam über den Beton auf den Balkonrand zuläuft, dort abperlt und weiter unten auf Sand tropft. Oder aber man läuft gerade durch den Gemeinschaftsraum, als man innehält weil man so ein komisches Geräusch vernommen hat, so ein strullendes Geräusch, und es kommt nicht aus der Toilette. Man fragt erstaunt seine deutsche Mitbewohnerin: „Was war DAS?? Das klingt nach pinkeln! Kam das aus dem Klo?“ Und sie schüttelt den Kopf, und ihr tretet vor die Wohnungstür, und da steht Ajsha und grinst und ihr senkt euren Blick auf den Boden und dort ist eine Pfütze und ihr fragt das Mädchen mit ernstem Gesicht: „SHTO ETO??“ (WAS IST DAS?) Und sie lacht und ruft: „WODA!“ (Wasser) Und ihr entgegnet ihr böse: „NET, eto NE VODY!“ (Nein, das ist KEIN WASSER) Sie lacht ein bisschen pikiert, ihr faucht sie genervt an: „NELSJA!!“ (Das darf man nicht!) Sie grinst dümmlich, ihr ruft noch einmal: „Nelsja!“ Sie lacht und rennt in die Wohnung. Wenig später kommt die Mutter heim, ihr petzt und die Mutter schimpft das Töchterchen aus.
Seitdem hat niemand mehr ins Treppenhaus gestrullt. Beim Balkon würde ich nicht darauf schwören, dass nicht doch das ein oder andere Rinnsal seinen Weg in die Erde an der frischen Luft genommen hat.
Soviel zum Themengebiet „Exkremente“. Wie kann man damit umgehen? Zum Beispiel kann man heimliche Erziehungsversuche bei den Kindern starten (Psscht, Ajsha, Ajsha, ty pomyla ruki?? (hast du die Hände gewaschen?) Davai! Posle tualeta objasatelno nuzhna (nach dem Klo muss man das unbedingt)! Du darfst auch unsere schöne Seife verwenden!)
Die sichere Variante ist aber, sich selbst so oft es geht die Hände zu waschen. Kein hundertprozentiger Schutz gegen folgenreichen Kontakt mit Fäkalienresten, da die Eltern vergessen haben den Kindern zu sagen, dass man zum Anschauen nicht zwangsläufig die Hände braucht… und man fremde Sachen sowieso nicht anfasst.
Genaueres darüber in "Die Abrechnung Part 2 - Vergessenes Ende einer Oralphase".
Das Highlight zum Schluss - der Badmülleimer ohne Tüte. Die Sanitätstechniker haben nämlich gesagt, man darf kein Klopapier ins Klo werfen da es sonst verstopft. Wohin dann mit dem verschissenen Papier? Genau! Inga und ich verstoßen allerdings seit zwei Monaten gegen diese Anweisung und noch ist (außer ab und an unserem Geduldsfass) noch nichts übergelaufen.