Montag, 26. Oktober 2009

Die Abrechnung Part 1 - "Mambet"

Man kann sich den verschiedensten Dingen auf dieser Welt bewusst sein, konkreten und abstrakten. Man kann ein Bewusstsein haben für zueinander passende Kleidung, für Probleme allgemein, für die Natur, für die Gesellschaft und so weiter. Und man kann Hygienebewusstsein haben. Manche Leute sind sich ziemlich wenig bewusst, was es auf dieser Welt alles gibt, vor allem wenn dieses Etwas außerhalb der eigenen kleinen Welt liegt. Gerade ab einem gewissen Alter ist es ziemlich schwer, Bewusstsein für einen Themenbereich zu entwickeln, mit dem man sich noch nie beschäftigt hat.
Wenn man mit vierzig Jahren zum Beispiel darauf hingewiesen wird welch qualvolles Dasein Hühner in Legebatterien fristen und man vielleicht doch ein paar Cent mehr in Freilandeier investieren sollte, sieht man das nur schwer ein. Man backt schließlich viel, und Eier sind teuer, man muss ja auch gucken wofür man sein Geld ausgibt.

Noch schwerer ist es aber zum Beispiel, mit vierzig Jahren plötzlich ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie viele Viren und Bakterien an der eigenen Handfläche hängen, wenn man sich nach dem Kacken den Hintern abgeputzt hat. Wenn man denn genug Bewusstsein dafür hat, das die Wurst, die man gerade in die Schüssel gedrückt hat, Rückstände in der Ritze verursacht.
Doch werden wir konkret – ihr ahnt es sicher schon, ich will auf unsere Mitbewohner im Wohnheim hinaus. Wir ihr euch vielleicht erinnert, sollte uns bereits die erste Begegnung mit dieser Familie im Gedächtnis gut haften bleiben: die Mutter geht ins Zimmer, holt das Unterteil des Küchenmülleimers und schüttet eine übelriechende Flüssigkeit in die Küchenspüle. Sie wäscht den Mülleimer aus, steckt eine frische Mülltüte hinein, setzt den Deckel obenauf und stellt ihn an seinen Platz in der Küche. Kurze Verwunderung.
Wie bereits früher beschrieben, handelte es sich hierbei um Pisse.

Vier Tage später, am 28. August 2009, notierte ich in meinem Tagebuch: „Unsere Mitbewohner-Familie im obshezhite (sie wohnen zu viert in einem Zimmer) legt großen Wert auf „naturalnye Produkty“. Sie sind sehr gastfreundlich, und obwohl sie anscheinend sehr wenig Geld haben, laden sie uns immer zum Teetrinken an den großen Tisch [Anm.: im Gemeinschaftsraum] ein. Dort dürfen wir dann alles „poprobyvat“ [probieren] und erhalten nach allem Selbstgebackenem die Bestätigung: nur aus der Natur. Wenn man Pech hat, machen sie dazu noch eine rollende oder knetende Geste – Pech deshalb, weil man absolut nicht wissen will, welche „Naturprodukte“ da noch so dran hängen. Das ist weder Anfeindung noch Vorurteil – diese Familie wäscht sich so selten, das ist einfach unglaublich.“ (…) Weiter unten: „Aber dass sie sich nicht die Hände waschen, wenn sie auf dem Klo waren, noch nicht mal die Mutter, bringt mich schon fast zum Übergeben wenn ich daran denke wie viel selbstgekochtes Essen ich in Zukunft nicht ablehnen darf – so groß ist meine Liebe für „Naturprodukte“ dann auch wieder nicht. (…)“

Weiter: „Bad und Klo sehen auch aus wie Sau… Die Mutter hat das Bodenwischwasser dieses Mal nicht (positive Entwicklung) ins Küchenwaschbecken, sondern ins Klo geschüttet. Leider hat sie es aber nicht gepackt, die Klobrille hochzuklappen und sie deshalb völlig versaut. Ob ihr das egal ist? Immerhin hat sie zwei kleine Töchter. Wobei die ja in der Hocke (auf der Brille stehend) pinkeln, wie uns Ajsha heute demonstriert hat. Damit besprenkeln sie dann noch den restlichen sauberen Klobrillenteil. Wenn die Kinder nicht ins Klo pieseln, machen sie in einen Eimer im Zimmer.“ (…)


Unser Klo nachdem wir es zum ersten Mal grundgereinigt hatten. Nein, wir haben auch keine Ahnung wofür diese Teekanne ist. Manchmal ist Wasser drin, manchmal eine rote Flüssigkeit. Mit dem Lappen links wischt die Mambet-Mutter ab und zu die Pisse von der Brille. Richtig sauber machen nur die Deutschen, alle zwei Wochen.

Am Anfang dachten wir, dass es sich dabei um eine Notlösung handelt – die Kinder im Alter von vier und sieben Jahren brauchen einen Toilettenersatz solange sie den ganzen Tag alleine, eingesperrt in ihrem Zimmer, verbringen. Ja, richtig gelesen, alleine! In der letzten Augustwoche beschloss die Mutter nämlich, ins Aul (kasachisch für Dorf) zu ihren Eltern zu fahren. Ihr Mann arbeitet als Programmierer (behauptet er zumindest) an der Uni und ist deshalb von Montag bis Samstag von neun Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags nicht zu Hause. Jeder normale Mensch würde wahrscheinlich denken: „Hey, meine kleinen Kinder haben Sommerferien, die nehm ich doch glatt mit wenn ich meine Eltern ein paar Tage besuche, sonst sind sie ja den ganzen Tag alleine.“

Könnte man eventuell als kulturelle Andersartigkeit betrachten (naja, eigentlich nicht), und deshalb fragten wir Nelli, ob man das hier manchmal so machen würde, Kinder alleine zu Hause lassen. Sie runzelte die Stirn rief entsetzt: „Nein, das macht man eigentlich nicht, ich meine, die sind ja noch ganz klein!“ Das hat uns insofern beruhigt, als dass wir sicher sein konnten, dass nicht ein ganzes Volk sich so dämlich verhält.
Im Übrigen legen die städtischen Kasachen bzw. Kasachstaner inklusive aller anderen Ethnien wie Russen, Tataren, und so weiter sogar mehr Wert auf’s Händewaschen als die Deutschen. Sie waschen sich – soweit möglich – vor jedem Essen die Hände. Mama, du würdest vor Freude über diese gute Angewohnheit weinen!
Sie haben auch kein Problem damit, ihre Gäste freundlich dazu aufzufordern. Allerdings scheint ein großer Unterschied zwischen Stadtbewohnern und Dorfbewohnern und Bewohnern sehr weit abgelegener Dörfer zu bestehen. Für letztere verwenden die Stadtbewohner die abwertende Bezeichnung „Mambet“ – wir haben schon von mehreren Leuten im Flüsterton gehört: „Wisst ihr, das sind solche Bauern, die kommen aus den Dörfern in die Stadt und haben überhaupt keine Kultur, also sie wissen nicht wie man sich richtig verhalten muss. Es gibt solche Leute, die haben keine Ahnung von Hygiene.“

„Unsere“ Familie fällt mehr oder weniger in die dritte Kategorie.


Waschbecken: links unsere Flüssigluxusseife, rechts das kaum beachtete Seifenstück der Mambet-Family

Warum also pinkeln die Kinder in den Eimer, beziehungsweise in eine blaue Plastikschüssel? Mittlerweile habe ich es verstanden – die Toilette ist einfach zu schmutzig! Wer benutzt die Toilette? Die Familie, Inga, ich. Und die Gäste der Familie. Seltener unsere Gäste. Wer verschmutzt die sanitären Anlagen nicht? Genau – Inga und ich! Was lässt sich daraus schließen – Mama und Papa plus ihre Gäste verpissen das Klo so, dass die Kinder besser im Zimmer auf die „Schüssel“ gehen.
Eine andere Erklärung wäre: einfach aus Faulheit. Die Eltern sind zu faul, den Kindern das Klolicht anzumachen, die Eltern sind zu faul, der Jüngsten zu helfen, sie sind zu faul, darauf zu achten ob die Kinder sich auf ein verschmutztes Klo setzen oder stellen.
Im Sommer pinkelt die Jüngste auch mal auf den Balkon oder die Ältere ins Treppenhaus. Folgendes Bild: Man sitzt am Schreibtisch, die Sonne scheint herein, es ist warm, die Balkontür steht offen – plötzlich vernimmt man ein Pissgeräusch. Und es kommt nicht aus Badrichtung, es kommt von draußen, es klingt ziemlich nah. Man steht auf, tritt einen Schritt auf den Balkon und sieht gerade noch, wie die kleine Ajlita zurück in ihr Zimmer huscht. Mitten auf dem Balkon eine kleine Pfütze, deren Wasser langsam über den Beton auf den Balkonrand zuläuft, dort abperlt und weiter unten auf Sand tropft. Oder aber man läuft gerade durch den Gemeinschaftsraum, als man innehält weil man so ein komisches Geräusch vernommen hat, so ein strullendes Geräusch, und es kommt nicht aus der Toilette. Man fragt erstaunt seine deutsche Mitbewohnerin: „Was war DAS?? Das klingt nach pinkeln! Kam das aus dem Klo?“ Und sie schüttelt den Kopf, und ihr tretet vor die Wohnungstür, und da steht Ajsha und grinst und ihr senkt euren Blick auf den Boden und dort ist eine Pfütze und ihr fragt das Mädchen mit ernstem Gesicht: „SHTO ETO??“ (WAS IST DAS?) Und sie lacht und ruft: „WODA!“ (Wasser) Und ihr entgegnet ihr böse: „NET, eto NE VODY!“ (Nein, das ist KEIN WASSER) Sie lacht ein bisschen pikiert, ihr faucht sie genervt an: „NELSJA!!“ (Das darf man nicht!) Sie grinst dümmlich, ihr ruft noch einmal: „Nelsja!“ Sie lacht und rennt in die Wohnung. Wenig später kommt die Mutter heim, ihr petzt und die Mutter schimpft das Töchterchen aus.
Seitdem hat niemand mehr ins Treppenhaus gestrullt. Beim Balkon würde ich nicht darauf schwören, dass nicht doch das ein oder andere Rinnsal seinen Weg in die Erde an der frischen Luft genommen hat.

Soviel zum Themengebiet „Exkremente“. Wie kann man damit umgehen? Zum Beispiel kann man heimliche Erziehungsversuche bei den Kindern starten (Psscht, Ajsha, Ajsha, ty pomyla ruki?? (hast du die Hände gewaschen?) Davai! Posle tualeta objasatelno nuzhna (nach dem Klo muss man das unbedingt)! Du darfst auch unsere schöne Seife verwenden!)
Die sichere Variante ist aber, sich selbst so oft es geht die Hände zu waschen. Kein hundertprozentiger Schutz gegen folgenreichen Kontakt mit Fäkalienresten, da die Eltern vergessen haben den Kindern zu sagen, dass man zum Anschauen nicht zwangsläufig die Hände braucht… und man fremde Sachen sowieso nicht anfasst.
Genaueres darüber in "Die Abrechnung Part 2 - Vergessenes Ende einer Oralphase".


Das Highlight zum Schluss - der Badmülleimer ohne Tüte. Die Sanitätstechniker haben nämlich gesagt, man darf kein Klopapier ins Klo werfen da es sonst verstopft. Wohin dann mit dem verschissenen Papier? Genau! Inga und ich verstoßen allerdings seit zwei Monaten gegen diese Anweisung und noch ist (außer ab und an unserem Geduldsfass) noch nichts übergelaufen.

Mittwoch, 14. Oktober 2009

Маньяк, что-ли?!

Die Blogeinträge lassen auf sich warten, es tut mir leid – das liegt nicht an bloßer Faulheit, sondern vor allem an mangelnder Muse aufgrund von sprachlicher Überforderung und daraus resultierender Müdigkeit. Außerdem befürchte ich, vorschnelle Urteile zu fällen und habe immer noch das Gefühl, weiter abzuwarten zu müssen um nicht übereilig etwas zu behaupten, eine Begebenheit nur aus der westeuropäischen Sichtweise zu betrachten und nicht objektiv genug zu bewerten. Trotzdem will ich versuchen, in nächster Zeit häufiger was Neues hier rein zu schreiben. Also… An sich ist das Leben in Uralsk nicht gerade spannend, aber egal, ob Inga und ich hier den Tag über viel zu tun haben oder nicht, in meinem Kopf ist immer viel zu tun. Erfahrungen sortieren, Erlebnisse reflektieren, Ereignisse in Schubladen einsortieren, wieder herausholen und woanders hinstecken oder komplett in den Müll werfen.

Wir verbringen einen Großteil des Tages damit, Russisch zu sprechen, dem Unterricht zu folgen oder öfter zu – proguljat (schwänzen). Dann schlafen wir meistens oder treffen uns mit Freunden und Bekannten. Tagsüber kämpfen wir gegen den Schlaf, nachts um ihn. Es sind nur drei Stunden Zeitverschiebung, für den Eulentyp aber in die ungünstige Richtung – wenn sich also der Schlafrythmus schon in Deutschland immer weiter gegen zwei Uhr nachts schiebt, bedeutet das hier läppische 5 Uhr morgens. Natürlich bekommt man dann morgens um sieben den Allerwertesten nicht aus der Kiste, wenn man um Punkt acht Uhr an der Uni sein soll. Stattdessen dreht man sich um, stellt das Handy vier Mal auf „Schlummerfunktion“, stellt den Wecker schließlich aus und schafft es mit großer Mühe um elf aufzustehen um noch ein, zwei Stunden Restuni mitzubekommen. Danach Mittagessen – im „Uralochka“ (einem guten Café), in der „Stolovaja“ (widerlicher Mensafraß) oder leckeren Dürüm Döner im „Dönerium Park“ oder Shaurma (Art Dürüm Döner) beim „Express“.

Um drei Uhr der Sprachkurs, nur Inga und ich, was bedeutet dass man geistig anwesend sein muss, günstigerweise 90 Minuten. Was im schlafgewrungenen, schlafgemangelten Mittagstief ein Problem ist. Danach schleppt man sich heim, trinkt einen Instantcafé, schnüffelt derweil süchtig an der Kaffeedose und legt sich erstmal eine Stunde schlafen (man war ja schließlich schon länger nicht mehr im Bett!).

Irgendwann meldet sich meistens Cihangir und will was unternehmen – Tee trinken, Döner im „Dönerium Park“ essen, Spazieren gehen, Nasha Russia am Computer schauen, einen anderen russischen Film anschauen, den unendlichen Mafiafilm, der eigentlich eine Serie ist, (Banditskij Peterburg) anschauen und alle zehn Sekunden auf Stopp drücken, weil wir nix verstehen. Währenddessen hält er uns über sein „bisnes“ auf dem Laufenden, erzählt drei Geschichten – die meist von einem „ochen bogaty chelovek“ (sehr reichen Menschen) handeln – und fünf Anekdoten sowie drei absurde Begebenheiten aus seinem Leben. Dabei benutzt er fünfzehn Mal den Ausdruck „Manjak shto-li“, acht Mal „Durak shto-li“ und dreihundert Mal „ooochen“ (sehr) in Kombination mit „bogaty chelovek“ (der bereits erwähnte reiche Mensch) oder „umnyj chelovek“ (ein schlauer Mensch), der inogda (manchmal) auch ein ganz schön „hitry“ (listiger) chelovek sein kann. Es gibt immer viel zu erzählen aus seinem Leben in Kasachstan, das ooochen interesnyj, ooochen smeshno aber öfter mal auch ooochen abartig sein kann.
Irgendwann um Mitternacht herum trennen sich unsere Wege und wir kontaktieren unsere Basis in Deutschland. Danach ist es gewöhnlich mindestens ein Uhr und eigentlich hat man nicht das Gefühl, man müsste schlafen. Man WEISS ganz sicher, dass man schlafen müsste, denn wie soll der morgige Tag weniger verranzt werden als sämtliche Tage der bereits vergangenen Woche wenn man nicht sofort einschläft?

Wie einfach wäre die Umstellung, wenn man nicht nur einmal die Woche rechtzeitig schlafen gehen würde! So verranzen die Tage, im Heft und im Ordner ein geistiger Vokabelberg von 200 Metern, aber es ist viel zu anstrengend alles im Wörterbuch nachzuschlagen und das Internet funktioniert sowieso seit Tagen mal wieder nicht. Wozu die Mühe, irgendwann lernt man das Wort zufällig (leider passiert das nicht gerade oft und man vergisst es nach zwei Sekunden wieder wenn es nicht gerade ein so witziges Wort wie „pukat“ (pupsen) ist). Das Vokabelheft ruft, der Blog will gefüllt werden, aber das Gehirn will nach einem halben Russischtag nichts außer schlafen.

Spätestens im Februar wenn ich wieder zu Hause bin, werde ich hier alles aufschreiben. Oder wenn Cihangir die Geschichten ausgehen… was wohl nie passieren wird. Man könnte jetzt leicht den Eindruck kommen, wir würden unsere Zeit nur mit Schlafen, Essen und türkisch geprägtem Russisch verschw…, äh, verbringen, aber dieser Eindruck täuscht durchaus! Wir haben uns trotz des Altersunterschieds mit vielen Studenten angefreundet, vor allem mit dem tretij (dritten) kurs und lieben obshatsja (treffen und quasseln) mit ihnen. Leider können wir uns die Hälfte der kasachischen Namen immer noch nicht merken… zum Thema Namen gibt es aber demnächst einen eigenen Eintrag.
In Ajnura, die wir über Couchsurfing kennengelernt haben, haben wir eine gleichaltrige Seelenverwandte gefunden. Mit ihr labern wir bis fünf Uhr morgens durch, tanzen zu ätzender Musik, lästern über engstirnige Leute und den manchmal abartigen Essensgeruch in unserer Wohnung, trinken zu viel Wodka... naja, einmal. Jetzt aus beeindruckenden Erfahrungen heraus lieber nur noch Bier.

Wir gehen auch mal ins Museum, besichtigen zusammen mit Alexander, einem Dozenten das "Museum des alten Uralsk", die Moschee (bisher eine von dreien) und die orthodoxe Kirche (bisher eine von fünf), gehen zu einem Vortrag ins Pushkin-Museum, gehen mit Vlad, einem anderen Dozenten, Schlittschuhlaufen, gehen auf die Erstsemester-Begrüßungsfeier, tanzen dort mit unseren "Klassenkameraden" aus dem Tretij kurs ab, und und und. Ist ja kein Wunder, dass da keine Zeit mehr zum Schreiben bleibt...


Daheim bei Alina (im rosa Schlafanzug). Erst mampfen und bisserl trinken, dann geht's los mit der Lieblingsbeschäftigung aller Kasachstaner: GULJAT - was entweder bedeutet, dass man studenlang durch die Stadt läuft und dabei pausenlos quasselt oder auch weggehen, in Cafés oder Klubs. Beim Spazierengehen lieben es vor allem die weiblichen Bewohner Kasachstans, sich bei jeder Gelegenheit in Pose zu werfen und tausend Fotos zu schießen - sehr zum Leidwesen von Inga und mir, denen es nach spätestens zehn Fotos schon zu anstrengend wird mit der Poserei.


Was tun wir gerade? Genau, guljat! Dabei tun wir was? Genau, posen! Hier vor einer Bank im sechsten Mikrorajon.



Traditionell westliches Vorglühen mit Ajnura. Hier sind übrigens Poster und Kommode in meinem Zimmer zu sehen!


Mit Alina und Irene in Darinsk - einem Pasjolka (Dorf) eine halbe Autostunde von Uralsk entfernt. Darinsk hat laut Angaben von Alina über 1000 Einwohner, allerdings keinen Eintrag bei Google Maps. Ich kann deshalb schändlicherweise keine genauen geographischen Angaben zu Darinsk machen, glaube aber es liegt nordöstlich von Uralsk. Zu Darinsk gibt es später aber auch nochmal einen separaten Eintrag!

Donnerstag, 10. September 2009

Astana - Fotos Tag 1 und 2

Die Fotos hochzuladen ist ein langwieriger Prozess, deshalb und der Übersicht halber ein separarer Eintrag nur mit Fotos (passend zum letzten Posting).


Flughafen Astana


Busfahrt ins Zentrum


Unsere Küche


Unser Schlafzimmer


Unser Bad: Sagrotan is my best friend


Vom Einkauf zurück, im vergammelten
Treppenhaus



Historischer Hintergrund, zeitgenössischer Vordergrund


Erstes warmes Essen in Kasachstan: Lagman


Wenige Menschen, viel Verkehr


Kasachisch und Russisch im Alltag:
außer auf den Behörden ziemlich gleichberechtigt



Das Museum für Kultur



Von der anderen Seite. Hinten:
Siemens-Niederlassung




Inga total lässig am Jesil




Denkmal für die Opfer des stalinistischen Terrors


Nein, nicht die Moskauer Lomonossov-Universität.
"Triumph Astana" heißt dieser hässliche
sozialistische Klotz laut Reiseführer.




Eine Stadt im Baufieber


Viel Platz und kein Mensch da - красивый город без душа.
(
"hübsche Stadt ohne Seele", reimt sich auf Russisch)



Moderne Architektur, Baukräne überall. Laut Dinara baut eine türkische Firma
sehr viele Gebäude, daher der blau-goldene Stil. Der leider im bitterkalten Winter
das ganze restliche Sonnenlicht in die Atmosphäre reflektiert.




Polizei - Kleine Männer mit großen Mützen


Spielende Kinder in den Hinterhöfen



Die Kehrseite des Glanzes

Astana – „Stadt der Träume“?

Tag 1:
17. August 2009

Das erste, was wir am frühen Morgen des 17. August 2009 von Kasachstan erblicken ist die Steppe. Sie erstreckt sich vor dem Flugzeugfenster weit in die Ferne und verschwindet im Dunst des Morgennebels. Wattewolken wie aus dem Bilderbuch werfen scharf konturierte Schatten auf die riesigen Agrar-Rechtecke. Am Anfang denkt man: Oh, überall so kleine Seen, wo die wohl herkommen, der Geograph im Hinterkopf ruft schon irgendetwas von „Pingo-Seen“, da reibt man sich die Augen und erkennt erstaunt, dass es die Schatten der Wolken sind. Neben den hellgrünen und beigefarbenen Rechtecken durchziehen kerzengerade Flüsse die weitläufige Ebene, die langsam unter dem Flugzeug vorbeizieht. Sie wurden zur Bewässerung der landwirtschaftlich genutzten Fläche angelegt und wirken wie das Werk eines Außerirdischen.
Die Traurigkeit vom Frankfurter Flughafen ist verflogen, ich bin aufgeregt und gespannt auf das unbekannte Land. Noch eine Stunde bis zur Landung. Mit vielen „wows“, „ohs“ und „hachs“ schieße ich erstmal zehn Fotos und blicke weiter verschlafen aus dem Fenster. Plötzlich leuchtet das Anschnalllämpchen auf, das Flugzeug setzt zur Landung an. Wir nähern uns der Erdoberfläche, die Details in der Landschaft werden trotzdem kaum größer – keine Städte, keine Dörfchen an jeder Ecke wie in Deutschland, um Astana herum kaum etwas außer den Datschen der Stadtbevölkerung. Nachdem wir unser Gepäck geholt haben, wechseln wir unsere Euros und halten die ersten Tenge-Scheine in unserer Hand. Ein Euro ist an diesem Tag 213 Tenge wert.
Der Flughafen ist klein, und so finden wir schnell den Bus 10, der uns für knapp 60 Cent pro Person zum Zentrum fährt. Völlig übermüdet unterhalte ich mich auf Neanderthaler-Russisch mit meiner Sitznachbarin, einer Tschechin. Ich war schon im Flugzeug nervös, der eiligen Stewardess meine Wünsche vorzutragen. Die Busfahrt Richtung Stadt geht vorbei an Bäumen, Sträuchern und Datschen, nach 20 Minuten tauchen die ersten großen Gebäude auf. Gleißendes Sonnenlicht lässt die blauen, kupferfarbenen und goldenen Fenster der zahlreichen neuen Gebäude in atemberaubendem Glanz erstrahlen. Wo aussteigen? Wo ist das Zentrum? Die Tschechin will am Bahnhof aussteigen, wir können gerne mit ihr kommen. Der Bahnhof liegt aber nicht im Zentrum – also steigen wir an der Haltestelle „Narodnyj Bank“ aus. Da stehen wir mit unserem schweren Gepäck, der abgasverseuchte Steppenwind bläst uns ins Gesicht, wir haben keine Ahnung wo wir stehen und wo wir hingehen sollen. Wir haben zwar zwei, drei Hotels im Reiseführer, die in Frage kommen, aber keinen Stadtplan, der uns die Frage beantwortet, welches davon sich in der Nähe befindet.
Jetzt hat das Abenteuer wirklich begonnen! Wir wimmeln alle zwei Meter einen Taxifahrer ab und schleifen gebückt unser Gepäck über viel zu hohe Bordsteinkanten den Prospekt Respubliki, eine der Hauptachsen der Stadt, entlang und finden keinen Stadtplan. Auf der linken Straßenseite das Hotel Abaj, der Reiseführer sagt: zu teuer. Davor spricht uns erneut ein Taxifahrer an. Wir erklären, dass wir auf der Suche nach einem Stadtplan und einem billigeren Hotel sind. Er sagt, er wisse da was, telefoniert und schlägt vor, uns dahin zu fahren. Zuerst sind wir skeptisch, schließlich wuchtet er aber unser Gepäck in den Kofferraum beziehungsweise Beifahrersitz, wir wuchten unsere schlaffen Körper auf den Rücksitz, und los geht die Fahrt. Keine 10 Minuten später stehen wir vor einem alten sowjetischen Wohnkomplex. Mit Skepsis und Neugier treten wir durch zwei eiserne Eingangstüren und gehen durch das heruntergekommene Treppenhaus hinauf in den ersten Stock. Dort putzt eine kasachische Babushka gerade die Wohnung. 7000 Tenge die Nacht für Zweizimmerküchebad. Ihre Tochter hat gegenüber eine Einzimmerwohnung für 5000. Ach, aber da geht das Licht nicht und überhaupt, hier ist es doch viel besser, für 5000 können wir hier wohnen. 12 Euro pro Person, nicht schlecht. 500 Tenge, noch nicht mal 2,50 Euro für die Taxifahrt. Zusammen mit dem Fahrer schleppen wir das Gepäck hoch. Und lassen uns erstmal ins Bett fallen.
So abenteuerlich beginnt unser erster Tag in Kasachstan. Den restlichen Tag verbringen wir mit Schlafen, Essen kaufen, dem Kauf einer kasachischen Simkarte und Internetcafé.

Tag 2:
18. August 2009

Am nächsten Tag das Touri-Programm: Wir besichtigen das „Präsidiale Kulturzentrum der Republik Kasachstan“. Dort kann man traditionelle kasachische Kleidung, Waffen, Schmuck usw. betrachten, aber auch Opfer des Großen Vaterländischen Krieges (wie der Zweite Weltkrieg im Ostblock genannt wird), erfolgreiche kasachische Sportler der Sowjetzeit, … Beeindruckend schön ist die große Jurte, die in einem der Säle aufgebaut steht. Beeindruckend nervig sind die zahlreichen Fotografien des „beliebten“ Präsidenten. Nursultan Nazarbayev mit erfolgreichen Studenten, mit internationalen Staatsmenschen (auch Angela Merkel), mit erfolgreichen Sportlern, mit Kindern. Jedes Foto übermittelt die Botschaft: „Ja, wir sind in guten Händen, solange sich unser Präsident um alles kümmert!“ In einem (übrigens sehr guten) amerikanischen Blog habe ich die Bezeichnung „good old Uncle Nazzy“ gelesen, passt ziemlich gut. Leider hab ich viele Details vergessen, man darf nämlich keine kostenlosen Fotos machen. Netterweise sind auch viele Schilder zur Beschreibung des Dargestellten ausschließlich in kasachischer Sprache.
Der Fußmarsch zum Flussufer ist sehr viel länger als der Stadtplan vermuten lässt. Die Sonne knallt erbarmungslos vom Himmel, der kühlere Steppenwind macht die Temperaturen aber erträglich. Er wirbelt nur die Haare durcheinander (was bei uns beiden ja nichts macht), lässt einen die Augen zusammenkneifen und trocknet die Lippen aus. Wir bleiben kurz am Ufer sitzen und legen uns auf die Mauer. Oben auf der Brücke rasen die Autos vorbei und blasen ihre ungefilterten Abgase in die Luft. Auf der anderen Seite des Jesil, im neuen Teil der Stadt, liegt der „Park der Kultur und Erholung“ (Парк культуры и отдыха).
Das Wetter in der Hauptstadt ist übrigens sehr interessant – gleißende Sonne wechselt sich in Sekundenschnelle mit dicken Regenwolken ab, es regnet zwei Minuten und weg sind die Wolken wieder. Am nächsten Tag erzählt uns Dinara, dass das nicht immer so war und wohl mit dem Klimawandel zu tun hätte. Wir haben für den Touri-Tag zum Glück einen Schirm von Tante Valja ausgeliehen und kauern uns auf einer Parkbank zusammen, bis der Regenguss vorbei ist. Danach ist es kurz windstill und ziemlich kühl. Inga schläft in einer ziemlich ungemütlichen Position ein, ich beobachte die schaukelnden Bäume und die restlichen Wolken, die über den Himmel rasen.
Am Ende des Parks steht ein Denkmal – ein Hügel mit der kasachischen Staatsflagge. Auf der Mauer, die sich den Hügel hochzieht, ein weises Zitat des weisen Staatsführers (man könnte hier sarkastisch bemerken: oh, mal was GANZ Neues). Ich frage mich immer noch, welche und wie viele unbezahlte Studenten sich all die wohlwollenden Nazzy-Zitate ausdenken, mit denen ganz Kasachstan tapeziert ist. An dieser Stelle aber jetzt mal der Sarkasmus beiseite – dieser von einem Polizisten bewachte Hügel ist ein Denkmal für die Opfer des stalinistischen Terrors. In Kasachstan verehrt man den Diktator also gottseidank nicht mehr.

«Восстановление Независимости – это закономерное возмещение жертв, принесенных нашими предками в многовековой борьбе за свободу.»
„Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit ist ein gesetzmäßiger Ersatz für die Opfer, die von unseren Vorfahren im jahrhundertelangen Kampf um die Freiheit erbracht wurden.“

Leider weiß ich noch nicht viel über die Geschichte Kasachstans, Abat hatte mir aber mal geschrieben, dass die Kasachen schon immer unterdrückt wurden, die Sowjets waren bisher die letzten (abgesehen vom neuen „Führer“).
Wir überqueren die breite Straße – übrigens ein waghalsiges Unterfangen – und schauen uns das Universitätsgebäude auf der anderen Seite an. Die ernsten Wachmänner, die im Eingang stehen, schrecken uns ab. Wir gehen einmal um das Gebäude herum und hauen dann lieber ab, es ist sowieso ein technischer Fachbereich. Auf der Suche nach dem neuen Zentrum und etwas zu essen laufen wir ewig weiter den Prospekt hinunter Richtung Süden. Nein, da gibt es nichts außer Regierungs- und Unternehmensgebäuden, wir drehen um und laufen zurück zur nächsten Bushaltestelle. Clevererweise steigen wir in einen falschen Bus, aber irgendwie schaffen wir es doch nach Hause. Abends möchte eigentlich die Tochter von Tjotja Valja kommen, um uns zu registrieren, aber sie ist krank. Gut, wir haben ja noch morgen oder übermorgen…
Total fertig von dem langen Fußmarsch schlafen wir erstmal zwei Stunden – dumm, da wir dafür nachts nach der deutschen Zeit schlafen gehen (die Uhren in Astana gehen immerhin vier Stunden vor). Wir schlafen also um vier.


Nichts und nichts, blauer Himmel, in der Ferne Dunst, Bewässerungskanal
(oder ist es eine Straße)?

Sonntag, 30. August 2009

Zoo mal von der anderen Seite. Außerdem: Schweine.

Unsere schönen Tage in Astana und Almaty liegen jetzt genau eine Woche zurück. Die Euphorie ist noch nicht verflogen, nur zeitweise verdrängt. Der Alltag hat uns, und mittlerweile haben wir genug dumme Menschen getroffen und wurden mit unschönen Situationen konfrontiert, dass ich nun getrost sagen kann: Die Sympathie für dieses Land ist innerhalb von wenigen Tagen – in Zahlen ausgedrückt – um gut 30 Prozent gesunken, der Intelligenzquotient unserer Umgebung um mindestens 100 Punkte gefallen.


Freier Fall. Keine Übertreibung.

Hart, aber fair!


Da wäre erstens das Obshezhite.

In diesem „Wohnheim“ wohnen mehr Nichtstudenten als Studenten. Wie kann man sich so ein Obshezhite vorstellen? Auf jeder Etage gibt es drei bis vier „Wohnungen“. Diese bestehen in unserem Fall aus vier Zimmern, in der Mitte ein Gemeinschaftsraum mit Küchentisch, Küchenschrank, Herdplatte, Waschbecken. Rechts neben der Eingangstür befindet sich ein Klo, eine Dusche, ein Waschbecken, jeweils getrennt durch eine Tür. Unsere Wohnung ist sehr gemütlich, im Gemeinschaftsraum sowie in unseren Zimmern liegt ein Teppich in der Mitte. Die Wände sind weiß oder pastellgelb gestrichen. Die Türen und Fenster bestehen aus weißem Holz. Jährlich wird die „kosmetichiskij remont“, eine kosmetische Reparatur durchgeführt. Dabei ist kosmetisch, beziehungsweise „äußerlich“, wirklich wörtlich zu verstehen: es wird einfach drübergepinselt – verzogene Türen stören genauso wenig wie ein verrostetes, darüber halbseitig gestrichenes Balkongitter. Als wir unsere Wohnung zum ersten Mal betraten, sind wir aus allen Socken gefallen, denn etwas so Schönes und Gemütliches hatten wir uns nach allen Horror-Spekulationen von deutschen und kasachischen Freunden nicht erwartet.


Allerdings hätten wir auch nicht die Schweinehorde erwartet, mit der wir unser trautes Heim teilen müssen. Nein, ich bin kein arroganter Westeuropäer, der herablassend auf andere Sitten hinunterblickt: das sind keine Sitten, das sind einfach nur widerliche Abarten, über die gesittete Kasachen ebenfalls den Kopf schütteln.Nach der Schmutzigkeit des Bads zu urteilen, hätten wir uns eigentlich gleich alles Weitere denken können. Aber wir dachten zunächst, es wäre einfach nur lange keiner da gewesen. Gegen Abend betrat jedoch die Wahrheit das Obshezhite: eine vierköpfige Familie mit einem Gesamt-IQ von vielleicht 120. Vater, Mutter und zwei Mädchen, wirklich süße Mädchen. Ich habe mich zunächst wirklich gefreut, dass wir ein Stück normalen Alltags erleben können. Die Mädchen haben meine Sachen begutachtet, ich habe ihnen Fotos gezeigt, wir haben versucht mit den Eltern zu reden, klarzustellen, dass wir hier freundlich miteinander leben möchten. Ja, da kommt schon das erste „versucht“ ins Spiel.


Diese Familie kommt vom Dorf und spricht so schlecht Russisch, dass sogar uns die Grammatikfehler in den Ohren klingeln. (Gut, fairerweise muss man hier erwähnen, dass die Mutter relativ gut spricht). Nun ja, dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, schließlich haben wir Kasachstan und nicht Russland gewählt, und sie sprechen eben in der Nationalsprache. Es ist darüber hinaus gut, ein paar Worte Kasachisch zu lernen. Wäre alles kein Problem. Wenn diese Familie wenigstens halbwegs weltweit anerkannte Hygienestandards eingehalten hätte! Nach ihrer Ankunft am Montag, dem 24. August 2009, hat die Mutter erstmal den flüssigen, orangefarbenen, übel riechenden Inhalt des Küchenmülleimers in die Spüle (man beachte: in der KÜCHE) geschüttet. Ich habe mich kurz gewundert, was das vielleicht sein könnte, mir aber keine weiteren Gedanken darüber gemacht. Zwei Tage später wurde uns dann klar, dass es sich hierbei nur um PISSE gehandelt haben kann. Prijatnogo appetita! Doch das ist noch längst nicht der Tiefpunkt der Zivilisation. Diese tiefe Jauchegrube des Ekels werde ich in einem separaten Blogeintrag näher ausleuchten.


Zweitens wäre da die Kleinstadt Uralsk.


Irgendein Gehweg, irgendeine Haueserfront in irgendeiner Strasse


Vom Flughafen wurden wir am Morgen des 24. Augusts von Majra Baradossowa, Deutschdozentin und Leitung der Abteilung Internationales (eine unglaublich liebenswürdige und gute Person, die sich um uns gekümmert hat und immer noch kümmert) und Vladimir, einem anderen Dozenten, der ein Semester in Mainz verbracht hat, abgeholt. Auf dem Weg vom Flughafen Richtung Stadt gleich eine Polizeikontrolle (Majra hat das Wort „willkürlich“ zwar nicht direkt ausgesprochen, aber gut umschrieben). Keine Probleme, sie wurden auf dem Hinweg schon angehalten. Ob sie wohl was gezahlt haben? Nach einer Stunde Schlaf in der letzten Nacht habe ich aber keine Energie mehr, darüber nachzudenken. Vorbei an grüner Steppenwiese, Datschen, Industrieanlagen nähern wir uns der Stadt. Als wir hineinfahren, begrüßen uns schon aus Astana und Almaty bekannte riesige Plakate, die den Präsidenten, das Volk, die Regierung, die Einheit des Landes und berühmte Schriftsteller zum Thema haben und die Einwohner täglich daran erinnern, in welch wunderbarem Land sie leben und was für ein Glück sie haben, Teil einer solch grandiosen Nation, geführt von einem noch großartigeren Präsidenten, zu sein. Bei der Plakatgestaltung schämt man sich auch nicht maßloser Übertreibung – je schönredender, desto besser. Doch auch dazu später mehr.























"Kasachstan - Der Anfuehrer des 21. Jahrhunderts!" "Das Volk glaubt seinem Praesidenten!" Gnadenlose Selbstueberschaetzung und offensichtliche Propaganda zeichnen die Plakate aus, die ueberall in der Stadt haengen.


„Oh nein, was für eine langweilige Kleinstadt, einfach ein beliebiger Stadtteil von Almaty“, war mein erster Gedanke, während ich die Übelkeit zu unterdrücken versuchte, die Übermüdung und die toxischen Autoabgase von draußen in mir verursachten. „Hier müssen wir bleiben. In dieser Kackstadt leben wir also die nächsten fünf Monate“, dachte ich. Ich dachte an die Berge im Süden und hätte am liebsten angefangen zu heulen. Stattdessen hörte ich der Unterhaltung von Majra, Vlad und Inga nicht zu und starrte aus dem Fenster. Mein Gehirn wollte kein Russisch mehr aufnehmen, und die deutschen Wortfetzen drangen stumpf und hohl nur in

Teile des Bewusstseins ein. Ich wollte einfach nur schlafen und die Welt vergessen. Dann die positive Überraschung im Obshezhite. Natürlich ist Inga nach 10 Minuten weggepennt, ich aber war aufgekratzt und wälzte mich bloß unruhig hin und her. Bestimmt habe ich nur eine Stunde geschlafen. Majra und Vlad stellten uns eine Pizza, Getränke, Obst und Gemüse, Teller, Besteck, einen Topf und einen Teekessel auf unsere Küchenkommode. Nachdem ich nicht mehr schlafen konnte und Inga egoistischerweise und aus Neid geweckt hatte (unter dem Vorwand wir dürften nicht so lange schlafen, sonst wären wir abends wieder zu lange wach, außerdem würde Majra ja bald kommen), machten wir uns daran die Vorräte zu plündern. Das erste Mal seit Tagen verspürte ich mal wieder richtigen Hunger.


Während wir unsere Wohnsituation lobten, plagte mich das schlechte Gewissen Majra gegenüber, die so nett ist und sich liebevoll um uns kümmerte, und ich konnte nur kotzen beim Gedanken in dieser Stadt bleiben zu müssen.

Abends holten uns Vlad und Majra mit dem Auto ab und zeigten uns das Denkmal des Zweiten Weltkriegs, einen riesigen Gewehrlauf aus Beton und wir spazierten ein bisschen am „речка“, am Flüsschen Ural entlang. Das Gehirn auf Standby, dachte ich nur daran, mich in den nächsten Zug zurück nach Almaty zu setzen, bis mir einfiel, dass die ehemalige Hauptstadt und mich zweitausend Kilometer und mehr als zwei Tage Zugfahrt trennten. Mein Verstand gab dem Herzen einen strengen Befehl, sich verdammt noch einmal zusammen zu reißen und darauf zu setzen, dass wir viele spannende Menschen an der Uni kennen lernen werden, die uns den Aufenthalt schön und unvergesslich machen. Allerdings weckten die Bewohner, an denen wir vorbeispazierten, nicht unbedingt große Hoffnungen.


Hiermit wären wir bei Punkt Drei, ich nenne ihn kurz und knapp„Zoo“.


Alle glotzen uns ungeniert an, starren uns ins Gesicht, mustern unsere Kleidung und wenn wir zu schnell vorbei gehen, sind sie auch in der Lage den Kopf um 180° zu drehen. In Astana und Almaty gab es zwar auch nicht an allen Ecken Ausländer, aber trotzdem starrten uns nicht alle wie Zootiere an. Am Anfang waren wir unangenehm berührt, nach zwei Tagen bis aufs Blut genervt davon. Ich dachte: „Verdammt noch mal, ja, wir sehen ausländisch aus, aber ist das denn so spannend, die durchschnittlichsten Durchschnittseuropäer zu begaffen?“


Einen Tag später fing ich an, die sitzenden Leute aus dem Augenwinkel zu beobachten und mir wurde langsam klar, dass sie nicht nur uns anglotzten, sondern einfach jeden, der vorbeiging! Uns vielleicht ein wenig länger, aber ansonsten ist in Grüppchen herum zu stehen und herum zu sitzen plus Passanten anzugaffen ein beliebter Volkssport, zumindest in Kleinstädten und kleineren Ortschaften. Ob wir uns daran gewöhnt haben? Ich bin mir nicht sicher, ob man sich tatsächlich daran gewöhnen kann, aber auf jeden Fall sind wir etwas entspannter geworden. Eine kochende Wut empfinde ich nur nach wie vor auf die dummen Leute, die uns „Heil Hitler“ (korrigiere: Geill Gitlerr) hinterher gerufen haben und das dann unglaublich „смешно“, lustig, fanden. Das ist uns bisher zwar nur zwei Mal passiert, aber bestimmt waren es nicht die letzten Male. Wutentbrannt und schäumend über diese dumme Unsensibilität für unsere Vergangenheit habe ich Majra davon erzählt. Sie meinte, das würden nur ungebildete Leute sagen und an der Uni würde das garantiert niemals passieren. Hoffentlich!


Eigentlich wollte ich endlich über unseren großartigen Aufenthalt in Astana und Almaty berichten, doch die Emotionen über Uralsk waren dominant. Die nächsten beiden Einträge werden euch dann endlich zeigen, warum wir so begeistert waren. Mit Uralsk und der Saubande bin ich noch lange nicht fertig, die Abrechnung wird weitergehen. Aber es wird auch Positives zu berichten geben :)


PS. Inga möchte sich hiermit von diesem Bericht über Uralsk distanzieren. Sie findet Uralsk schöner. Ich finde es gibt schöne Ecken. Aber Inga findet die Stadt ist insgesamt ganz schön, vor allem die Uni. Da hat sie auch Recht. Wir haben auch schon drei nette Mädels kennen gelernt beziehungsweise wieder getroffen. Es ist nicht alles rabenschwarz. Bis auf das fehlende Warmwasser, die elektrischen Leitungen – stopp – für heute erstmal genug Düsteres.