Donnerstag, 10. September 2009

Astana – „Stadt der Träume“?

Tag 1:
17. August 2009

Das erste, was wir am frühen Morgen des 17. August 2009 von Kasachstan erblicken ist die Steppe. Sie erstreckt sich vor dem Flugzeugfenster weit in die Ferne und verschwindet im Dunst des Morgennebels. Wattewolken wie aus dem Bilderbuch werfen scharf konturierte Schatten auf die riesigen Agrar-Rechtecke. Am Anfang denkt man: Oh, überall so kleine Seen, wo die wohl herkommen, der Geograph im Hinterkopf ruft schon irgendetwas von „Pingo-Seen“, da reibt man sich die Augen und erkennt erstaunt, dass es die Schatten der Wolken sind. Neben den hellgrünen und beigefarbenen Rechtecken durchziehen kerzengerade Flüsse die weitläufige Ebene, die langsam unter dem Flugzeug vorbeizieht. Sie wurden zur Bewässerung der landwirtschaftlich genutzten Fläche angelegt und wirken wie das Werk eines Außerirdischen.
Die Traurigkeit vom Frankfurter Flughafen ist verflogen, ich bin aufgeregt und gespannt auf das unbekannte Land. Noch eine Stunde bis zur Landung. Mit vielen „wows“, „ohs“ und „hachs“ schieße ich erstmal zehn Fotos und blicke weiter verschlafen aus dem Fenster. Plötzlich leuchtet das Anschnalllämpchen auf, das Flugzeug setzt zur Landung an. Wir nähern uns der Erdoberfläche, die Details in der Landschaft werden trotzdem kaum größer – keine Städte, keine Dörfchen an jeder Ecke wie in Deutschland, um Astana herum kaum etwas außer den Datschen der Stadtbevölkerung. Nachdem wir unser Gepäck geholt haben, wechseln wir unsere Euros und halten die ersten Tenge-Scheine in unserer Hand. Ein Euro ist an diesem Tag 213 Tenge wert.
Der Flughafen ist klein, und so finden wir schnell den Bus 10, der uns für knapp 60 Cent pro Person zum Zentrum fährt. Völlig übermüdet unterhalte ich mich auf Neanderthaler-Russisch mit meiner Sitznachbarin, einer Tschechin. Ich war schon im Flugzeug nervös, der eiligen Stewardess meine Wünsche vorzutragen. Die Busfahrt Richtung Stadt geht vorbei an Bäumen, Sträuchern und Datschen, nach 20 Minuten tauchen die ersten großen Gebäude auf. Gleißendes Sonnenlicht lässt die blauen, kupferfarbenen und goldenen Fenster der zahlreichen neuen Gebäude in atemberaubendem Glanz erstrahlen. Wo aussteigen? Wo ist das Zentrum? Die Tschechin will am Bahnhof aussteigen, wir können gerne mit ihr kommen. Der Bahnhof liegt aber nicht im Zentrum – also steigen wir an der Haltestelle „Narodnyj Bank“ aus. Da stehen wir mit unserem schweren Gepäck, der abgasverseuchte Steppenwind bläst uns ins Gesicht, wir haben keine Ahnung wo wir stehen und wo wir hingehen sollen. Wir haben zwar zwei, drei Hotels im Reiseführer, die in Frage kommen, aber keinen Stadtplan, der uns die Frage beantwortet, welches davon sich in der Nähe befindet.
Jetzt hat das Abenteuer wirklich begonnen! Wir wimmeln alle zwei Meter einen Taxifahrer ab und schleifen gebückt unser Gepäck über viel zu hohe Bordsteinkanten den Prospekt Respubliki, eine der Hauptachsen der Stadt, entlang und finden keinen Stadtplan. Auf der linken Straßenseite das Hotel Abaj, der Reiseführer sagt: zu teuer. Davor spricht uns erneut ein Taxifahrer an. Wir erklären, dass wir auf der Suche nach einem Stadtplan und einem billigeren Hotel sind. Er sagt, er wisse da was, telefoniert und schlägt vor, uns dahin zu fahren. Zuerst sind wir skeptisch, schließlich wuchtet er aber unser Gepäck in den Kofferraum beziehungsweise Beifahrersitz, wir wuchten unsere schlaffen Körper auf den Rücksitz, und los geht die Fahrt. Keine 10 Minuten später stehen wir vor einem alten sowjetischen Wohnkomplex. Mit Skepsis und Neugier treten wir durch zwei eiserne Eingangstüren und gehen durch das heruntergekommene Treppenhaus hinauf in den ersten Stock. Dort putzt eine kasachische Babushka gerade die Wohnung. 7000 Tenge die Nacht für Zweizimmerküchebad. Ihre Tochter hat gegenüber eine Einzimmerwohnung für 5000. Ach, aber da geht das Licht nicht und überhaupt, hier ist es doch viel besser, für 5000 können wir hier wohnen. 12 Euro pro Person, nicht schlecht. 500 Tenge, noch nicht mal 2,50 Euro für die Taxifahrt. Zusammen mit dem Fahrer schleppen wir das Gepäck hoch. Und lassen uns erstmal ins Bett fallen.
So abenteuerlich beginnt unser erster Tag in Kasachstan. Den restlichen Tag verbringen wir mit Schlafen, Essen kaufen, dem Kauf einer kasachischen Simkarte und Internetcafé.

Tag 2:
18. August 2009

Am nächsten Tag das Touri-Programm: Wir besichtigen das „Präsidiale Kulturzentrum der Republik Kasachstan“. Dort kann man traditionelle kasachische Kleidung, Waffen, Schmuck usw. betrachten, aber auch Opfer des Großen Vaterländischen Krieges (wie der Zweite Weltkrieg im Ostblock genannt wird), erfolgreiche kasachische Sportler der Sowjetzeit, … Beeindruckend schön ist die große Jurte, die in einem der Säle aufgebaut steht. Beeindruckend nervig sind die zahlreichen Fotografien des „beliebten“ Präsidenten. Nursultan Nazarbayev mit erfolgreichen Studenten, mit internationalen Staatsmenschen (auch Angela Merkel), mit erfolgreichen Sportlern, mit Kindern. Jedes Foto übermittelt die Botschaft: „Ja, wir sind in guten Händen, solange sich unser Präsident um alles kümmert!“ In einem (übrigens sehr guten) amerikanischen Blog habe ich die Bezeichnung „good old Uncle Nazzy“ gelesen, passt ziemlich gut. Leider hab ich viele Details vergessen, man darf nämlich keine kostenlosen Fotos machen. Netterweise sind auch viele Schilder zur Beschreibung des Dargestellten ausschließlich in kasachischer Sprache.
Der Fußmarsch zum Flussufer ist sehr viel länger als der Stadtplan vermuten lässt. Die Sonne knallt erbarmungslos vom Himmel, der kühlere Steppenwind macht die Temperaturen aber erträglich. Er wirbelt nur die Haare durcheinander (was bei uns beiden ja nichts macht), lässt einen die Augen zusammenkneifen und trocknet die Lippen aus. Wir bleiben kurz am Ufer sitzen und legen uns auf die Mauer. Oben auf der Brücke rasen die Autos vorbei und blasen ihre ungefilterten Abgase in die Luft. Auf der anderen Seite des Jesil, im neuen Teil der Stadt, liegt der „Park der Kultur und Erholung“ (Парк культуры и отдыха).
Das Wetter in der Hauptstadt ist übrigens sehr interessant – gleißende Sonne wechselt sich in Sekundenschnelle mit dicken Regenwolken ab, es regnet zwei Minuten und weg sind die Wolken wieder. Am nächsten Tag erzählt uns Dinara, dass das nicht immer so war und wohl mit dem Klimawandel zu tun hätte. Wir haben für den Touri-Tag zum Glück einen Schirm von Tante Valja ausgeliehen und kauern uns auf einer Parkbank zusammen, bis der Regenguss vorbei ist. Danach ist es kurz windstill und ziemlich kühl. Inga schläft in einer ziemlich ungemütlichen Position ein, ich beobachte die schaukelnden Bäume und die restlichen Wolken, die über den Himmel rasen.
Am Ende des Parks steht ein Denkmal – ein Hügel mit der kasachischen Staatsflagge. Auf der Mauer, die sich den Hügel hochzieht, ein weises Zitat des weisen Staatsführers (man könnte hier sarkastisch bemerken: oh, mal was GANZ Neues). Ich frage mich immer noch, welche und wie viele unbezahlte Studenten sich all die wohlwollenden Nazzy-Zitate ausdenken, mit denen ganz Kasachstan tapeziert ist. An dieser Stelle aber jetzt mal der Sarkasmus beiseite – dieser von einem Polizisten bewachte Hügel ist ein Denkmal für die Opfer des stalinistischen Terrors. In Kasachstan verehrt man den Diktator also gottseidank nicht mehr.

«Восстановление Независимости – это закономерное возмещение жертв, принесенных нашими предками в многовековой борьбе за свободу.»
„Die Wiederherstellung der Unabhängigkeit ist ein gesetzmäßiger Ersatz für die Opfer, die von unseren Vorfahren im jahrhundertelangen Kampf um die Freiheit erbracht wurden.“

Leider weiß ich noch nicht viel über die Geschichte Kasachstans, Abat hatte mir aber mal geschrieben, dass die Kasachen schon immer unterdrückt wurden, die Sowjets waren bisher die letzten (abgesehen vom neuen „Führer“).
Wir überqueren die breite Straße – übrigens ein waghalsiges Unterfangen – und schauen uns das Universitätsgebäude auf der anderen Seite an. Die ernsten Wachmänner, die im Eingang stehen, schrecken uns ab. Wir gehen einmal um das Gebäude herum und hauen dann lieber ab, es ist sowieso ein technischer Fachbereich. Auf der Suche nach dem neuen Zentrum und etwas zu essen laufen wir ewig weiter den Prospekt hinunter Richtung Süden. Nein, da gibt es nichts außer Regierungs- und Unternehmensgebäuden, wir drehen um und laufen zurück zur nächsten Bushaltestelle. Clevererweise steigen wir in einen falschen Bus, aber irgendwie schaffen wir es doch nach Hause. Abends möchte eigentlich die Tochter von Tjotja Valja kommen, um uns zu registrieren, aber sie ist krank. Gut, wir haben ja noch morgen oder übermorgen…
Total fertig von dem langen Fußmarsch schlafen wir erstmal zwei Stunden – dumm, da wir dafür nachts nach der deutschen Zeit schlafen gehen (die Uhren in Astana gehen immerhin vier Stunden vor). Wir schlafen also um vier.


Nichts und nichts, blauer Himmel, in der Ferne Dunst, Bewässerungskanal
(oder ist es eine Straße)?

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